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Wolfgang, Freund und Kollege des Kunstrestaurators Robert Patati, wird in Amsterdam ermordet. Zuletzt hat Wolfgang im Archiv des Lebensmittelkonzerns Duneko Fotos aus der Firmengeschichte für eine Ausstellung restauriert. Galt der Anschlag ihm oder seinem Auftraggeber? Auch in dem zweiten Roman des deutsch-niederländischen Autorenduos kann Patati jetzt nur noch die gewiefte niederländische Profilerin Micky Spijker weiterhelfen...

"Eine Dreiviertelstunde später parkte er seinen Wagen am Rheinufer unterhalb des Düsseldorfer Kunstzentrums Ehrenhof. Robert besuchte die in der Weimarer Republik geschaffene monumentale Anlage mit ihren lang gezogenen Backsteinbauten oft und gerne. Denn im NRW-Kulturforum wurden regelmäßig herausragende Fotografen gezeigt und im Museum Kunst Palast reihte sich eine sinnenfreudige und kluge Ausstellung an die andere, seitdem es ein neuer Direktor leitete. Vor allem arbeiteten hier die Kolleginnen und Kollegen des städtischen Restaurierungszentrums, mit denen er und Wolfgang in regem Austausch standen.

Als Robert klingeln wollte, verließ ein Mann das Gebäude. Robert schlüpfte durch die geöffnete Tür hinein und stieg die Treppen in die zweite Etage hinauf.

Der helle Arbeitsraum der Papier- und Fotorestaurierung war verwaist. Aber Papati hörte Musik aus dem Nachbarraum, der normalerweise von den Gemälderestauratoren genutzt wurde, und das leise Mitsummen einer wohlbekannten Stimme. Er steckte den Kopf durch den Türrahmen.

Franziska Brandner hatte sich tief in den japanischen Urwald hineingearbeitet. Mit der linken Hand hielt sie ihre schönen rötlich braunen Locken zurück und legte das Ohr an den Eingang zu einer mächtig verwunschenen Lichtung. Einer Musik lauschend, die nur sie hören konnte. So jedenfalls stellte sich die Szene Robert dar, dessen Sinn für fantastische Gedankenfolgen auch am „Tag nach der Tüte“ noch keinesfalls erloschen war.

Tatsächlich hing an der großen Gitterarmierung der Wand eine nicht weniger als vier Quadratmeter große, unglaublich dreidimensional wirkende Dschungel-Fotografie des Düsseldorfer Fotografen Thomas Struth. Franzi hockte seitlich davor und musterte die oberste Schicht der Fotografie.

„Lass dich nicht von den bösen Mangas fressen“, warnte Robert.

Franziska fuhr auf. „Mein Gott, hast du mich erschreckt. Was machst du denn hier?“

Dass sie ihm nicht böse war, konnte er an ihrem Lächeln ablesen. Sie erhob sich und umarmte ihn. „Warum hast du nicht Bescheid gesagt? Jetzt habe ich leider kaum Zeit. Der Struth ist ein absoluter Notfall. Beim Umhängen heruntergefallen. Wie geht’s dir? Hast du Urlaub?“, sprudelte es aus der jungen Frau heraus.

Robert musste lachen und zugleich schossen ihm die Tränen in die Augen. „Wolfgang ist tot.“

„Was?“

„Er ist tot. Er fuhr mit dem Wagen seines Auftraggebers. Ein Boot kam, zwei Männer haben auf ihn geschossen, der Wagen ist explodiert. „ Patatis Hals war wie zugeschnürt. Er wandte sich ab, seine Augen suchten hektisch nach einem Fluchtweg, er bemühte sich vergeblich, die Kontrolle über seine Gefühle zurückzugewinnen. Da spürte er, wie ihn Franziskas Hände festhielten. Auch sie weinte, während sie Robert zu einem Tisch schob.

„Wolfgang war zuletzt so angespannt“, sagte Franziska schniefend. „Ich glaube, ihm war der Job über den Kopf gewachsen. Wäre er doch nicht nach Amsterdam gefahren.“ Dicke Tränen kullerten über die Sommersprossen auf ihren Wangen. „Und ich habe ihn überredet, den Auftrag anzunehmen.“

„Wieso du?“, fragte Robert erstaunt.

Sie drückte das Kreuz durch. „Versteh mich nicht falsch. Du weißt, wie sehr ich ihn als Papierrestaurator schätze. Aber zu seiner Zeit gab es noch keine spezielle Ausbildung zur Fotorestaurierung. Seine Abschlussarbeit über Saalfeld war wegweisend. Aber es war eine reine Theoriearbeit. Und es ist zwanzig Jahre her. Wolfgang überlegte, den Job in Amsterdam abzulehnen.“

„Aber dann hat er sich doch entschlossen, die Duneko über seine Fähigkeiten zu bluffen“, vermutete Robert.

„Ja, weil ich ihm sagte, dass er verrückt wäre. Ein Saalfeld-Liebhaber wie er bekommt die einmalige Chance, ein bisher vollkommen unbekanntes Fotokonvolut zu studieren. Er hat einen kleinen Auffrischungskurs von mir bekommen – ein paar neue Techniken und Hilfsmittel. Und ich habe ihm versprochen, dass er mich Tag und Nacht anrufen kann, sobald er auf Probleme stößt. Da hat er zugesagt.“

Robert griff nach ihrer Hand. „Mach dir keine Vorwürfe. Er hätte in jedem Fall zugesagt. Diese Zweifel – das war nur Wolfgangs Art, jemanden um Hilfe zu bitten, ohne offiziell anzufragen. Ein Knacks. Er hatte immer nur Angst, dass man ihn zurückweisen könnte.“

Franziska weinte noch eine Weile still vor sich hin. Dann putzte sie sich die Nase und sprang plötzlich auf. „Ich weiß, es ist pervers. Aber ich muss an den Struth. Wenn ich jetzt nicht weitermache, wird er zum Totalschaden.“

"Kann ich Fotolaie dir helfen?“

„Leider nein. Hier hilft nur noch, gegen alle Regeln zu verstoßen. Und dazu muss man sie kennen. Siehst du?“ Sie zeigte auf die untere linke Bildecke. „Heftig gestaucht. Das zerplatzte Acrylglas habe ich schon abgenommen. Aber jetzt muss ich die Fotoemulsion mit Feuchtigkeit bearbeiten, um sie zu glätten.“

„Du pinselst das direkt von vorne drauf?“

Robert zog die Augenbrauen hoch.

„Sag ich ja. Verboten. Aber was willst du machen, wenn hinten eine Aluminiumplatte den Weg versperrt. Die Alternative wäre, das Bild in die Tonne zu hauen. „Sie versuchte, zu lächeln. „Robert? Könntest du heute Abend noch ein bisschen in Düsseldorf bleiben?“

Er nickte. „Ich muss nur Micky anrufen. Sie hat mich in Amsterdam sozusagen ins Leben zurückgeholt. Die Details erzähl ich dir später. Wir sind in Krefeld verabredet, um morgen zurückzufahren. Aber sie hat sicher nichts gegen einen kleinen Abstecher in die Düsseldorfer Altstadt. Das wäre für Niederländer jedenfalls ganz untypisch."  Roberts Grinsen verunglückte.

Franzi strich sanft über seinen Arm. „Wie steht’s um dich und Micky?“

Robert zog die Schultern hoch.

„Also um sieben in Wolfs Lieblingslokal?“ "

aus:
Thomas Hoeps/Jac. Toes, Das Lügenarchiv, Grafit Verlag, S. 78-81.