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„Gute Geschichten haben nicht zwangsweise ihren Ursprung in Berlin oder Brooklyn. Die besten ereignen sich im Alltag, hier in Düsseldorf.“, sagt der aus der Landeshauptstadt stammende Autor Dr. Michael Wenzel alias Sonny Wenzel.


"TACKTACKTACKTACK! Das unerbittliche Stakkato eines Presslufthammers reißt mich schon wieder aus dem Schlaf. Guten Morgen, Düsseldorf! Meine Stadt ist eine Baustelle. Denn es gibt Menschen, die behaupten, sie sei in die Jahre gekommen. Nicht, weil ihr Boden Schlaglöcher hat. Nicht, weil ihr Bier Alt ist. Das Leben in ihr sei, so meinen sie, zu langsam und deshalb braucht es einen Schrittmacher: weitere 3,4 Kilometer U-Bahn-Strecke, um das Tempo anzuziehen. In wenigen Minuten vom Wehrhahn nach Bilk – von Am Wehrhahn zum Bahnhof Bilk, vom Kaufhof hin zu den Düsseldorf Arkaden. Shopping im Minutentakt, während das Leben für sechs Jahre gefriert. Ein Wald aus Stützen und Gerüsten versperrt mir Sicht und Weg. Und als wäre das alles nicht genug, bekommt meine Stadt ein neues Gesicht aufgedrängt. Ein Facelifting, bei dem ihr Boden mit Beton unterspritzt und alles, was Risse zeigt, geglättet wird. Das Peeling nagt bereits am Tausendfüßler aus Spannbeton. Sein Ende ist nah, denn er hat es gewagt, Gebrauchsspuren zu zeigen. Vergeben ist meine Chance auf die Lösung der Weltformel, der ich seit meinem vierten Lebensjahr hinterher jage."

„Papa, Mama, wie viele Beine hat ein Tausendfüßler?“

Tausend ist gleich zehnmal Ypsilon plus fünf plus fünf. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, die Stützen des Tausendfüßlers zu zählen, um Ypsilon, die wichtigste Variable im Universum, zu erfassen. Denn bald wird der Tausendfüßler von Abrissbirnen zerquetscht werden wie so viele seiner Artgenossen unter den Stiefelsohlen der Bauarbeiter. Was bleibt ist frischer Nährboden für die Beliebigkeit moderner Architektur und Franchiseketten.

„Und erst wenn die letzte Autohochstrasse planiert ist, werden die Menschen feststellen, dass man sich bei Regen nicht am Geldautomaten unterstellen kann.“

Warum muss das Schöne und Bewährte fallen und die Oberflächlichkeit siegen? Am liebsten möchte ich sie im Boden versinken lassen, all die heidnischen Dombauten, den blitzenden Dreck unserer Zivilisation: Die Banken und Versicherungen mit ihren leeren Versprechungen. Die SB-Warenhäuser mit ihren Wucherlöhnen. Die Agenturen mit ihren maßgeschneiderten Lügen. Die Fresstempel mit ihrem All-You-Can-Eat-Gift. Im Boden sollen sie versinken! Auf dass Gras über die Sache wächst. Gras für eine große, grüne Wiese, auf der die Alten die Zeit vergessen, die Jungen müßiggehen und Kinder spielen.

Ich bin zu allem bereit. Gewillt jeden Preis zu zahlen. Doch Du bist teuer: Für ein Abenteuer mit Dir muss man zehn Millionen Euro hinlegen. Denn Du hast Köpfchen: vollgespickt mit 200 diamantenscharfen Schneidwerkzeugen. Du bist meine süße Wuchtbrumme: 65 Meter lang und 1.300 Tonnen schwer. Du bist verfressen: 15 Meter am Tag bohrst Du Dich durch den Untergrund Düsseldorfs, damit man hinter Dir Stützen und Fertigteile für die Wehrhahn-Linie setzen kann. Die einen nennen Dich plump Tunnelbohrmaschine, andere flüstern zärtlich Deinen Namen: Tuborine. Turborine, Du sollst meine Komplizin sein, für nur eine Nacht. Ich würde Dich frisieren – sagen wir mit einem Ferrari-Motor. Aus 15 Metern am Tag würden 15 Meter die Minute. Du mutiertest zu einer nimmersatten Höllenmaschine, wie sie den Alpträumen Jules Vernes entsprungen sein könnte.

Du stählernes Werkzeug meiner bohrenden Wut. Ich bin Dein Pilot, der zart Deine Hydraulikstempel drückt, um Dich auf Kurs zu halten. Gemeinsam rasen wir durch den Untergrund, durchpflügen vom Tempo berauscht den versteinerten Staub vergessener Zeiten. Hinter uns nur Grundwasser und Schlamm. Keine Stützen diesmal – nur Bodenlosigkeit. Und über uns die Schandflecken dieser Stadt, die glänzenden Götzenbilder aus Glas und Stahlbeton, die menschenleer in unserer marianengrabentiefen Schneise der Zerstörung versinken. Die unterbuchten Hotels im Hafen, die Bürogebäude in der Innenstadt und nicht zu vergessen: die nervigen Starenkästen der Verkehrsüberwachung. Hast Du auch das dumpfe Poltern gehört? Das war das Hyatt im Hafen. Und jetzt noch ein kleiner Abstecher zum GAP 15.

Der Morgen naht. Unser Werk ist getan. Zeit für den Abschied – und falsche Fährten. Ein paar leere Flaschen polnischer Wodka und eine angebrochene Packung vietnamesischer Billigzichten in Deiner Führerkabine sollten genügen. Ich kehre zurück an die Oberfläche und wandere durch meine erwachende Stadt. In einer Bäckerei kaufe ich die ersten Brötchen des Tages und einen Kaffee. Ich setze mich auf eine Parkbank, genieße den Sonnenaufgang und erfreue mich an der neuen, freien Sicht - vom Hauptbahnhof bis an den Rhein. Es ist noch still und ich höre, wie das Gras wächst. Gras für eine große grüne Wiese, auf der die Alten die Zeit vergessen, die Jungen müßiggehen und Kinder spielen. Ich denke an Dich: Turborine, mon amour.

ungedruckt, aber veröffentlicht.