Früh entdeckt Dennis seine Leidenschaft für die Darstellung von Gliedmaßen in Beton und nennt sich freischaffender Künstler, während sein Freund Mark zwischen Schriftstellerkarriere und gesicherter Lehrerzukunft hin und her schwankt. Marc Degens erzählt von jenem Wahnsinn, der uns hartnäckig als Alltag verkauft wird, aber eigentlich eine einzige Zumutung ist.
"Obwohl Dennis nicht mehr an der Universität eingeschrieben war, traf man ihn dort nun wegen Lily häufiger als mich. Kurze Zeit später begannen die Studentenproteste. Ich habe den Auslöser vergessen: Eine Bibliothek sollte geschlossen, das Semesterticket abgeschafft, die Studiengebühren eingeführt oder erhöht werden. Jedenfalls begann es als harmloser Faxprotest und endete als bundesweiter Hochschulstreit. (...)
Ernst wurde die Sache dann ein paar Wochen später. Studenten aus allen Ecken der Republik kamen am Nikolaustag in Düsseldorf zusammen, um vor dem Sitz des Ministerpräsidenten zu protestieren. Im Minutentakt fuhren die Sonderzüge am Vormittag in den Bahnhof ein.
wie ein buntes Band zog sich der Demonstrationszug durch die Düsseldorfer Innenstadt, entlang der Königsallee, auf beiden Seiten des Grabens. Es waren zehntausende Menschen. Sozialisten schwenkten Fahnen, Globalisierungsgegner entrollten Spruchbänder, eine Gruppe maskierter Clowns skandierte „Marsch, Marsch, Marshmallows!“ Die Stimmung war fantastisch, trotz der eisigen Kälte. Langhaarige, Anzugträger, und Vermummte liefen traulich vereint Seite an Seite.
Am Nachmittag erreichte der Demonstrationszug dann den Sitz der Landesregierung. Mit einem gellenden Trillerpfeifenkonzert wurde der Ministerpräsident empfangen, zwei Studentenvertreter übergaben ihm einen Forderungskatalog, mit einem Pfeifkonzert wurde der Ministerpräsident verabschiedet. Lily, Dennis und ich waren begeistert. (...)
Neugierig schalteten wir um acht Uhr die „Tagesschau“ ein. In Düsseldorf waren wir in der ersten Reihe marschiert und hatten die Kamerateams vor uns hergetrieben. Lily hatte einem Journalisten sogar ein Interview gegeben. Ich hätte darauf wetten können, dass wir drei in der „Tagesschau“ zu sehen sein würden. Doch was wir zu sehen bekamen, war für uns ein Schock!
die Hauptnachricht war die neuerliche Benzinpreiserhöhung. Es folgten ein Nachruf auf einen Hollywoodregisseur. Berichte über ein Umwetter in Baden-Württemberg und die Verleihung einer Ehrenmedaille an einen deutschen Modedesigner. Dann kam die Wettervorhersage. Die Proteste in Düsseldorf wurden mit keiner einzigen Silbe erwähnt."
aus: Marc Degens, Das kaputte Knie Gottes, Knaus Verlag München 2011, S. 31ff.