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In vier Bänden oder 366 Tageseinträgen erzählt Gesine Cresspahl, vom 21. 8. 1967 bis 20. 8. 1968, ihrer zehn- bzw. elfjährigen Tochter Marie die Familiengeschichte. Während ihrer Ausbildung zog sie nach Düsseldorf -  eine fremde Stadt, die zu ihrer Heimat wird.


"- Gesine, das sollte deine Heimat werden!

- Die Schülerin Cresspahl versuchte es, seit sie als Angestellte lebte in Düsseldorf, in einem möblierten Zimmer in Flingern-Nord, bei einer Witwe, die für ihre kommunistische Ortsgruppe die Kassiererin machte und es mürrisch anfing mit einer Untermieterin, die hatte auf ihre Parteifreunde im Ostdeutschen verzichtet; verbot Herrenbesuch. Das enterbte Kind suchte keine Herren; sie teilte ihre Abende auf zwischen dem Zentralbad in der Grünstraße und der Landesbibliothek am Grabbe-Platz, wo die Leute fürsorglich waren zu einer Kundin, die bestellt einen Jahrgang Zeitungen nach dem anderen. Las die entgangene Zeit nach, seit 1929. Lesen, lesen; wie nach einer tückischen Krankheit. Hielt Düsseldorf für eine Endstation; versuchte sich zu gewöhnen an die glatten, durchgehenden Fassaden. Hielt Groschen bereit am 10. November, wenn die Kinder Laterne gingen für den Heiligen Martin; wünschte dennoch am nächsten Tag sich aus der Stadt, da begann der Karneval. Ging den Radschlägern aus dem Weg. Las tapfer nach über Jan Wellem und Immermann, begann eine Sammlung mit dem Führer „Willkommen im neuen Heim“; Düsseldorf um die Jahrhundertwende. Ging zu Fuß nach Kaiserswerth; fand eine Ahnung von Jerichow an einem ochsenblutrot gestrichenen Schuppen, Ausspannung eines Gasthofs in verrottetem Garten. Sah sie in einer Gastwirtschaft ein Meisterdiplom hängen mit dem Hakenkreuz im Amtssiegel, überklebte sie es klammheimlich mit einer Briefmarke, die zeigte immerhin den Kopf des Staatsverräters, der hierzulande Staatspräsident war.

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Eine Heimat ist Düsseldorf geworden, seit es da für den Namen Cresspahl die Tür einer abschließbaren Wohnung gab, ein separates Telefon. Die vereinigten britischen und amerikanischen Militärs, für die eine Angestellte in einem Wald bei Mönchengladbach mit deutschen Landräten verhandelte über die Abschätzung von Manöverschäden, die wünschten sie sicher aufgehoben, erreichbar. Bloß ein ausgebauter Dachboden, ein weitläufiges Zimmer mit Kammer und Küche; alle Fenster gegen den Himmel. Düsseldorf-Bilk, das war meine Gegend, in einer Kneifzange aus Lärm auf Schienen, von Straßenbahn und der Strecke nach Krefeld und Köln. Bei Alt St. Marien; täglicher Anblick die Tafel zur Erinnerung an „DIE IN DER NACHT VOM 11. ZUM 12. JUNI 1943 UNTERGEGANGENE BILKER STERNWARTE“; auf Mittelachse geordnet. In einem Haus, das wies über seinen Fenstern Brauen und zwei Mittelbalkons; wahrhaftig geknickte Augenbrauen. Da gab es kleine Parks, Trinkhallen, zum Spazierengehen den Südfriedhof; wenig Straßen nördlich das Stadtbad in der Konkordia-Straße.

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Wie gefiel es meinem Vater in Düsseldorf im Westen?

- Schnuppe war es ihm. Der wollte wissen, ob ich meine acht Stunden Schlaf auch nehm für jede Nacht, ließ sich meinen Weg zum Arbeitsbus führen, fragte nach meinem letzten Termin beim Zahnarzt. Einen Schal brachte er mir an aus Mecklenburg! Wenn ich nachhause kam bei Alt St. Marien in Bilk, hatte Jakob mir Wurst gebacken à la Jerichow; ein Mann kann braten mit Blut und Mehl, Rosinen, Majoran, Thymian und Apfelscheiben, damit seine Gesine einmal noch ißt wie zu Hause! Wenn er sich auskannte in Delikatessenläden an der Graf-Adolf-Straße von Düsseldorf, ohne Neid. Wohl, zehn Sorten Brot den täglichen Tag, er wünschte es auch für sein Land; oder das Land, aus dem er kam."

Aus: Uwe Johnson, Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Suhrkamp Verlag Frankfurt 2000, S. 1678 ff.