zurück

November 1819: Im Rhein wird die Leiche des Gelegenheitsgauners Dietrich Lohner gefunden. Genau an diesem Tag beginnen in der ehemaligen Kreuzherrenkirche Grabungen, die die Gruft der Herzogin Jakobe von Baden ausfindig machen sollen, die 200 Jahre zuvor ebenfalls ermordet wurde. Die junge Isolde Heinrich soll die Grabungen protokollieren. Abends begegnet ihr auf dem Heimweg eine geisterhafte, verschleierte Frau. Isolde versucht das Rätsel um diese Frau zu lösen, während die Polizei gleichzeitig nach dem Mörder von Lohner fahndet. Nach und nach entdeckt Isolde Zusammenhänge zwischen den beiden Fällen...

„Schön, dass Sie gewartet haben. „

Isolde fuhr herum. Vor ihr stand Robert, der sich offenbar vollkommen lautlos von der Ratinger Straße her genähert hatte, den Hut in der Hand, das rotblonde Haar vom schnellen Laufen zerzaust. Erschrocken taumelte sie rückwärts.

„Oh. Verzeihen Sie, Fräulein Heinrich. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“

„Schon in Ordnung“, stammelte Isolde. „Ich war nur so in Gedanken, dass ich sie gar nicht habe kommen hören.“

Sie hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Sie benahm sich alberner als ein Schulmädchen. Damit würde ab sofort Schluss sein. Sie räusperte sich. „Wollen wir los?“

Er bot ihr seinen Arm, und sie hakte sich ein. Gemeinsam liefen sie die Altestadt hinunter, bis die Häuserfront, die den Blick auf den Rhein verbarg, in sichtweite kam. Die Gebäude lagen dunkel und still da, in keinem der Fenster brannte Licht, und auch auf der Straße war keine Menschenseele unterwegs.

Robert löste sich von Isolde. „Gehen sie von hier aus ohne mich weiter. Die Erscheinung – diese Frau – soll denken, dass sie da allein sind. Sie wagt sich womöglich nicht heraus. Ich schleiche Ihnen hinterher.“

In dem Augenblick kam eine Kutsche in halsbrecherischer Geschwindigkeit von der Reuterkasernenstraße herangefahren und bog in die Krämerstraße ein. Die Räder krachten über das Pflaster, die Pferde schnaubten, der Mann auf dem Bock hieb erbarmungslos auf sie ein. Robert schob Isolde sanft zur Seite und stellte sich schützend vor sie, als das Gefährt die beiden mit wenigen Zoll Abstand passierte. Für den Bruchteil einer Sekunde traf Isoldes Blick den des Mannes, der im Inneren der Kutsche saß. Es war ein hagerer älterer Herr mit hohem Hut, grauem Backenbart und strengem Gesicht, dessen Augen sie zu durchbohren schienen. Seine Züge kamen ihr vage vertraut vor, doch es fiel ihr nicht ein, wo sie den Mann schon einmal gesehen hatte.

„Was für ein Grobian!“, schimpfte Robert. Besorgt sah er Isolde ein. Das Grau seiner Augen wirkte im Zwielicht beinahe schwarz. „Alles in Ordnung?“

„Ja, es geht mir gut.“

Robert trat einen Schritt zurück. „Sind Sie bereit?“

„Das bin ich.“

„Dann los. Ich bleibe in Ihrer Nähe.“

Isolde folgte der Kutsche durch die Krämerstraße auf den Burgplatz zu. Es war inzwischen vollkommen dunkel, doch die Straßenlaternen boten ausreichend Licht. Vereinzelt kamen ihr Menschen entgegen, die Köpfe gesenkt, um die Gesichter vor der Kälte zu schützen. Oder vor neugierigen Blicken.

Vor dem Schlossturm blieb Isolde kurz stehen. Rechts von ihr lag das Salzmagazin, dahinter der Rhein. Niemand war zu sehen. Langsam umrundete sie den Turm, bis der halb zerfallene Innenhof des Schlosses vor ihr lag. Ihr gegenüber befand sich nun der wiederhergestellte Teil des Schlosses, der die Münze beherbergte, links dahinter lag die Malerakademie, die kürzlich vom alten Hafen hierhergezogen war, und ganz rechts grenzte unmittelbar an den Turm der immer noch verfallene Flügel der alten Residenz. Über dem Gemäuer lag nächtliche Finsternis. Die Beamten waren längst nach Hause gegangen, auch in der Akademie brannten keine Lichter mehr.

aus:
Sabine Klewe, Die schwarzseidene Dame, Gmeiner Verlag Meßkirch 2009, S. 152 ff.