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In Düsseldorf taucht ein verbrannt geglaubtes Gemälde wieder auf. Gleichzeitig muss der Hauptkommissar Zeitz in einem Mordfall ermitteln, der sich in der Kunst-Szene Düsseldorfs ereignet hat. Von der Polizei wird dabei eine unschuldige Frau verdächtigt.

 
"Christina lenkte ihren Roller auf den Bürgersteig, klappte den Ständer herunter und stellte den Motor aus.

Es hatte gutgetan, so weit zu fahren. Vier Stunden lang, über Landstraßen und Feldwege; unter einem grauen, konturlosen Himmel, aus dem feiner stetiger Regen fiel. Anfangs hatte sie noch vorgehabt, das Dorf anzusteuern, in dem Ingo das Dürr-Gemälde wiederentdeckt hatte, doch dann hatte sie die Lust verloren und war stattdessen einfach ihren Eingebungen gefolgt, immer weiter, mit nur einer Pause in einem Café, als ihre Hände zu kalt geworden waren.

Vor ihr lag die Auffahrt zur Oberkassler Brücke. Natürlich war dies nicht mehr das Bauwerk, das Felix Dürr einmal gemalt hatte; das war kurz vor Kriegsende von der Wehrmacht gesprengt worden. Trotzdem würde ihr dieser Ort vielleicht helfen, sich darüber klar zu werden, was sie an dem Gemälde so irritierte.

Sie nahm den Helm ab und befreite ihren Zopf aus der Jacke. Es regnete immer noch. Aber es war wärmer geworden. Mitte März. Allzu lange konnte der Winter nicht mehr durchhalten. Im Frühling würde es ihr in Düsseldorf besser gefallen. Im Frühling würde ihr das ganze Leben besser gefallen, auch wenn sie sich dann immer noch mit arroganten Schulfreunden, fürsorglichen Onkeln und Geldmangel herumschlagen musste.

Und den Rhein hatte sie schon immer geliebt. Sie klemmte sich den Helm unter den Arm und ging den Bürgersteig entlang, über die Zufahrt zum Ufertunnel und die Rheinpromenade hinweg, bis sie nur noch Wasser unter sich hatte. Dann blieb sie stehen.

Silbriges Grau. Ein Frachtschiff zog schwarze Furchen hindurch. In jedem Wellental lagen noch Schatten, doch auf den Kämmen spiegelte sich der Himmel, und dieser Himmel war heller geworden. Die Wege am anderen Rheinufer glänzten nass und klar. Christina legte den Helm neben sich auf den Boden und stützte die Ellbogen auf das Geländer.

(...)

Sie sprang auf und ging zum Schreibtisch hinüber, nahm das Mousepad von der Tastatur des Computers, stellte die Blechdose, in der sie ihre Stifte aufbewahrt hatte, wieder auf und sammelte ein halbes Dutzend Stifte vom Fußboden. Danach beugte sie sich weit über den Schreibtisch und versuchte zu erkennen, ob noch alle Kabel in den Buchsen steckten. Anscheinend ja. Sie setzte sich auf den Drehstuhl und schaltete den Computer ein.

Während er startete, drehte sie sich mitsamt Stuhl zu Jan um. „Wenn bei dieser Sache das herauskommt, was ich vermute, werden wir ein Buch darüber schreiben. Was hälst du davon? Du und ich als Co-Autoren? Der verlorene Felix Dürr?“

Wieder hatte sie einen Moment lang den Eindruck, dass er vergessen hatte, worüber sie sprachen, dass ihre Worte ihn aus weiter Ferne zurückholten. Dann erschienen rote Flecken auf seinen Wangen. „Wir beide? Das wäre ...“ Er räusperte sich. „Das klingt schön, Christina. Aber ein ganzes Buch? Meinst du wirklich, wir könnten so viel Material zusammenbekommen? Bisher hattest du nur ein Kapitel in deiner Harth-Biographie geplant. Dafür reicht es natürlich. Aber ein ganzes Buch nur über die verschollenen Gemälde? Dafür müssten wir monatelang recherchieren. Mindestens. Unserem Chef wäre das sicher nicht recht...“

„Ich hatte nicht vor, ihn zu fragen.“ Gegen ihren Willen hatte sich der vertraute gereizte Unterton in ihre Stimme geschlichen. Konnte er denn keinen Plan wenigstens für ein paar Minuten am Leben lassen? Du weißt doch noch gar nicht, worum es geht, dachte sie. „Das Büro bezahlt mich projektweise. Was ich nebenher mache, geht niemand etwas an.“

Hinter ihr meldete der Computer mit seiner Startmelodie, dass er einsatzbereit war. Sie drehte sich um und öffnete den Ordner, in dem sie Fotos ablegte.

„Auf jeden Fall müssen wir uns mit Ingo Seelbach abstimmen“, fuhr Jan hartnäckig fort. „Damit wir ihm nicht in die Quere kommen. Er schreibt schließlich auch ein Buch.“

Sie wirbelte herum. „Ingo schreibt ein Buch? Über die Oberkasseler Brücke? Woher weißt du das?“

„Er hat es gestern erwähnt. Nach dem Vortrag, als er einer Frau ein Autogramm gab. Hast du übrigens gesehen, wie er die Einladungskarten signiert hat? Nicht etwa auf der Rückseite, wo der Text stand. Sondern vorn, auf dem Gemälde. Rechts unten in der Ecke. Als würde er das Gemälde selbst signieren.“

„Tatsächlich“, sagte Christina.

„Jedenfalls hat er der Frau erzählt, dass er ein Buch schreibt. Er hatte sogar einen Entwurf für das Cover dabei. Das war es was er in die Kamera gehalten hat, als der Mann von der Zeitung ihn fotografiert hat. Er will mit seiner Entdeckung reich werden, Christina, und wenn wir ihm dazwischenfunken ...“

„Wenn das mit dem Reichwerden so einfach wäre ...“, sagte Christina, doch zugleich hatte sie Niklas` Stimme im Ohr: Reich werden ist so leicht, Chrissie. Das Geld liegt da und wartet darauf, dass man zugreift. Das Komische ist nur: Die meisten Leute sehen es nicht.

Sie wandte sich wieder dem Computer zu. Seit heute Morgen gab es in ihrer Bildersammlung einen Unterordner mit dem Titel duerr. Er enthielt zwei Dateien: Fotos, die sie von Brians Handy an ihr eigenes geschickt hatte, bevor sie sein Gerät im Kaiserteich versenkt hatte. Sie klickte das erste an.

„Wärst du gern reich?“, fragte Jan.

Sie hob zerstreut die Schultern. „Ja klar, du nicht?“

Das Bild baute sich langsam auf. Es war keine besonders gute Aufnahme: Im Zentrum spiegelte sich das Blitzlicht so stark auf den Kämmen der dick aufgetragenen Ölfarbe, dass man unter den Reflexen kaum die Formen erkannte. Aber die Malweise war unverwechselbar: kräftige, breite, fast grobe Pinselstriche. Dunkles Rot und Ultramarin mit sparsam gesetzten blassblauen Lichtern.

Johanna Ey. Die bekannte Kunsthändlerin. Die meistgemalte Frau Deutschlands.

(...)

Jetzt endlich trat er neben sie und betrachtete das Foto auf dem Bildschirm. „Das ist Johanna Ey.”

“Genau. Gemalt von Felix Dürr. Warte.“

Sie stand auf und blickte um sich. Für die Arbeit an der Harth-Biografie hatte sie in der Bücherei einen Bildband über Felix Dürr ausgeliehen. Im Regal stand er nicht mehr – kein einziges Buch stand noch im Regal -, doch nach einigem Suchen entdeckte sie ihn in einem Stapel in der Zimmerecke. Sie zog ihn unter den anderen Büchern hervor, trug ihn zum Schreibtisch, schob die Maus aus dem Weg und schlug ihn auf. „Hier. Da kannst du den Stil vergleichen. Augenblick ...“ Sie überblätterte rasch eine Serie von Selbstporträts, bis sie bei den Bildern aus der Mitte der 1920er-Jahre angekommen war. „Das ist ungefähr die Zeit, in der er die Oberkasseler Brücke gemalt hat. Siehst du? Die gleiche Art, den Pinsel zu führen.“

Jan beugte sich gehorsam über das Buch und blätterte ein wenig vor und zurück. Dann schüttelte er den Kopf. „Davon verstehe ich nichts. Um das zu beurteilen, müsste man Kunsthistoriker sein. Vielleicht könnte dein Freund Ingo ...“

„Nein“, unterbrach sie. „Ingo möchte ich dieses Bild nicht zeigen.“

„Aber wenn du Zweifel hast, ob das Porträt wirklich von Dürr ist ...“

„Um das mit Bestimmtheit zu sagen, müsste man sowieso das Original untersuchen. Im Moment geht es mir nur darum, dass dieses Ey-Porträt von Dürr stammen könnte. Hier.“ Sie griff an dem Buch vorbei nach der Maus und fuhr mit dem Zeiger zu einer Stelle ganz unten am Bildrand. „Siehst du das? Da kann man gerade noch die Signatur erkennen. Sie entspricht denen auf den Dürr-Gemälden im Buch.“

Jan schaute flüchtig hin und richtete sich auf. „Das ist wirklich nicht mein Fachgebiet, Christina.“

Aber du hast doch Augen im Kopf!, hätte sie am liebsten erwidert. Gestern im Stadtmuseum hatte er ihrem Onkel noch einen Vortrag über Expressionismus gehalten. Aber das war natürlich Bücherwissen gewesen, dafür musste man sich nur eine lange Reihe von Fakten merken. Hierfür hätte man hinschauen müssen. Und das überforderte ihn. Er sah nur Farbe auf Hochglanzpapier. Pixel auf einem Bildschirm. Öl auf Leinwand, wie ihr Onkel gesagt hatte. Der hatte sich wenigstens über sich selbst lustig gemacht.

„Wieso fragst du überhaupt? Der Mensch, dem das Bild gehört, wird doch wissen, ob es von Dürr ist.“

„Genau das weiß er eben nicht. Nicht sicher.“

„Und er hat dich gebeten, das zu überprüfen? Wieso geht er nicht zu einem Kunstexperten?“

Christina zögerte und atmete tief ein. „Ich nehme an, das hat er noch vor. (...) „Dieses Gemälde“, fuhr sie etwas zu laut fort, „ist im April 1946 in Düsseldorf gekauft worden. Auf dem Schwarzmarkt. Von einem englischen Soldaten. Ich vermute, dass es eins der vier anderen Bilder ist, die Egon Harths Vater in dem Schuppen versteckt hatte. Aber ich weiß es natürlich nicht sicher. Deshalb wollte ich dich fragen, ob du mir hilfst, es herauszufinden. Du könntest die zeitgenössischen Quellen durchgehen – Dürrs Briefe und die Biografie, die seine Tochter geschrieben hat. Johanna Eys Memoiren … Ausstellungskataloge, Zeitungsartikel ...Was immer dir noch einfällt, mit solchen Recherchen kennst du dich doch aus, besser als ich. Wenn irgendwo ein Ey-Porträt von Felix Dürr erwähnt wird, wären wir schon einen Schritt weiter.“

Jan runzelte die Stirn. „Na, ich weiß nicht, Christina. Da sucht man doch nach der Nadel im Heuhaufen. Weiß denn der Mann, der das Bild gekauft hat, nicht, woher es stammt?“

„Der Mann lebt nicht mehr. Er wäre sonst über 90. Sein ...Seine Erben wissen nur das, was er ihnen über die Zeit in Düsseldorf erzählt hat und was in seinen Briefen steht. Das ist nicht viel.“

„Und du sollst für sie prüfen, ob das Bild echt ist?“

„Nein“, wiederholte Christina geduldig. „Du hast es eben selbst gesagt: Das wäre eine Aufgabe für einen Kunstexperten. Nein, ich habe ganz zufällig von der Geschichte erfahren...“"

aus:
Carla Rot, Blutasche, Droste Verlag, Düsseldorf 2010, S. 34 ff. und S. 93 ff.