zurück

Sascha Rehs Debütroman spielt im Theatermilieu; im Zentrum steht der alternde Theatermann Lothar Lotmann, der in einer letzten Inszenierung noch einmal verwirklichen will, woran er im Leben gescheitert ist: Liebe, Freundschaft, Familie. Der Autor verwebt die Theaterhandlung mit einer Familiengeschichte und stellt die große Frage, welche Rolle das Leben für uns schreibt.

Sascha Reh, geboren 1974 in Duisburg, studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik in Bochum und Wien. Für seine Romane wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. 2011 mit dem Niederrheinischen Literaturpreis, 2014 mit dem Lotto Brandenburg Kunstpreis Literatur und 2015 mit dem Literaturpreis Ruhr. 2017 war er Stipendiat der Deutschen Akademie Rom in der Casa Baldi. Sascha Reh lebt mit seiner Familie in Berlin. Aurora steht auf der Shortlist für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis.

Sie hatten den Rheinturm erreicht, links von ihnen lag der Landtag. Sie hatte keine Ahnung, was sie hier eigentlich sollten. (…)

„Können wir da hoch?“

„Auf den Funkturm?“ Sie schien Philipp durcheinander zu bringen, offenbar störte sie den von ihm geplanten Ablauf, und sofort war sie bereit, den Vorschlag zurückzuziehen.

„Gern“, sagte Philipp, „warum nicht“?

„Ich bin da Jahre nicht mehr gewesen“, sagte Emilie, zur Erläuterung oder auch zur Entschuldigung.

„Gern“, wiederholte Philipp.

Sie fuhren mit dem Expresslift hinauf, um den Druck auf den Ohren loszuwerden, gähnte sie. Philipp lächelte sie an. Der Fahrstuhlführer, ein verhutzelter graugesichtiger Mann, beobachtete sie verstohlen.

„Wie oft machen Sie die Tour?“, fragte Emilie und deutete nach oben.

Der Mann, ungefähr so alt wie Lothar, mit eingefallenen Wangen und eingefallener Brust – eigentlich ist alles an ihm eingefallen, dachte Emilie -, zuckte die Schultern und sagte dann mit italienischem Akzent:

„200 Male. Vielleicht 300.“

„Wirklich? Am Tag?“ Emilie war aufrichtig entsetzt.

„Isch kann nicht aufhören“, sagte der Mann unerwartet verschmitzt.

Oben überkam sie wieder der Schwindel. Der Rhein wand sich in die Dämmerung, auf den Brücken waren die Lichter angegangen. Schwach konnte man den Hafen Pirates Island erkennen; Philipp erklärte ihr gerade, dass der Besitzer, ein windiger Unternehmer, den Baugrund als Brache gepachtet hatte und sich seit ein paar Jahren mit der Idee, eine Strandbar mit exklusiven Cocktails und hippen Djs zu betreiben, dumm und dämlich verdiente. Der bewundernde Unterton in seiner Stimme war ein Angebot, Emilie erkannte das Potenzial für ein gemeinsames Gespräch: Philipps Unzufriedenheit mit seiner freien Praxis, die finanzielle Belastung seit der Scheidung, die zunehmende enge seiner nie endenden Problemfälle. Als sie sich gegen die überhängende Scheibe lehnte und auf die Liegestühle und Pavillons starrte, die schon für den Frühling in Stellung gebracht worden waren, musste sie an die blaue Bar denken.

Sascha Reh, Falscher Frühling. Schöffling Verlag Frankfurt/Main 2010, S. 103/104